Auf diesem Friedhof sind keine Ratinger Juden begraben, sondern Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde Kettwig vor der Brücke, das früher zur Gemeinde Laupendahl gehörte. Dass dieser Friedhof nun auf Ratinger Gebiet liegt, hat mit der Kommunalreform von 1929 zu tun. Das Areal gehörte danach zum Amt Angerland. Die Gebietsreform von 1975 brachte weitere Veränderungen; seitdem gehört es zu Ratingen. Der Friedhof ist nur 1400 Quadratmeter groß. 44 Grabsteine sind erhalten, 39 davon können mehr oder weniger gut entziffert werden. Die Grabsteine sind in unterschiedlich langen Reihen angeordnet.
Es war keine alte Gemeinde. Der erste Schutzbrief wurde 1756 ausgestellt. Juden besaßen kein Bürgerrecht. Wenn sie sich an einem Ort niederlassen wollten, mussten sie einen „Schutzbrief“ beantragen. Der war sehr teuer. Er kostete zwischen 50 und 80 Taler und wurde in der Regel für 16 Jahre ausgestellt. Die Ausstellung der Schutzbriefe oblag für Kettwig vor der Brücke der bergischen Unterherrschaft Hugenpoet. Im Archiv Hugenpoet-Fürstenberg sind die Namen der ersten jüdischen Bewohner aufgeführt: Levi David, Joseph Seligmann, Samuel Benjamin, Salomon Herz, Meyer Gumbrich, Michel Levi, Abraham Philipp, Aaron. Juden durften keinen Ackerbau betreiben, kein Land besitzen, kein Handwerk ausüben. Sie waren Viehhändler, Metzger oder Händler (meist armselige Kleinhändler, die mit ihren Kiepen Haushaltswaren von Dorf zu Dorf trugen). Durch Kettwig vor der Brücke lief die Kuhstraße, eine alte Handelsstraße, über die die Viehhändler ihre Kühe von Dinslaken durch das Bergische Land bis nach Hanau trieben. Manch einer wird den Flecken Kettwig vor der Brücke als Wohnsitz ausgewählt haben. So kamen sie aus Mülhausen (im Elsass), Bergheim (im heutigen Rhein-Erft-Kreis), Ansbach (in Bayern), Calcar (am Rhein), Worms, Bockenheim und aus dem Rheinland und ließen sich hier nieder.
Gemeinhin herrscht die Ansicht, dass Juden reich, hinterhältig, unredlich und falsch seien. Diese Ansicht muss gründlich revidiert werden. Die Juden, die in Kettwig vor der Brücke im 18. Jahrhundert lebten, gehörten zum Landjudentum. Sie waren arm. Es gibt zahlreiche Berichte des amtierenden Schöffen (zu finden im Landesarchiv NRW unter Großherzogtum Berg, Rentei Angermund-Ratingen), in denen dieser dem Kellner von Angermund darlegt, dass die jeweils besuchte Familie die jährliche Abgabe nicht bezahlen kann. Zum Beispiel: „Ich bescheinige hiermit, daß der Moses Hertz zwantzig Jahr in der Herschafft Hugenpoet gewohnd hat, er sich immer wohl betragen, doch durch viele Kinder seine hohe Last gehabt, sein brod da vor zu verdienen... .“ Auch waren die Juden der Willkür der Herrschaft Nesselrode-Hugenpoet ausgesetzt. Der Ehemann von Augusta von Nesselrode-Hugenpoet, Hauptmann Karl August Freiherr von Maercken, überschlug sich fast mit unrechtmäßigen Forderungen und Drohungen. Die schriftlich überlieferten Auslassungen bewahrt das Archiv Fürstenberg auf: „Muß ich schon zum erstenmal über die Widerspenzigkeit der hießigen Juden überlässig werden... Sie können mir gewiß glauben, daß dieselbe mir an pfachtung und Unkosten gebühr viel zu theuer sind... denn wo der Jud einen betrügen, und bestehlen kann, unterlaßt er es nicht...“ (22. Dezember 1807 an den Amtmann von Landsberg). 1808 brachte die „Bergische Ordinanz“ den Juden eine deutliche Lebensverbesserung. Im Großherzogtum Berg wurde durch Napoleon die Leibeigenschaft und das Lehnswesen abgeschafft, die Gewerbefreiheit eingeführt und der Kauf von Immobilien und Ländereien erlaubt.
Die Forschung nach jüdischen Bewohnern ist weit schwieriger als nach christlichen. Juden stehen nicht im Kirchenbuch. Informationen müssen aus Heberollen und Sonder-Repertorien herausgefiltert werden. Leichter wird die Suche für die Zeit, in der es Standesämter gab. Im französisch besetzten Rheinland war das 1792 und ab 1808 der Fall. Da wir die auf den Grabsteinen genannten Namen der Verstorbenen erfahren wollten, haben wir fleißig im Stadtarchiv Essen die Standesamtsunterlagen durchgesehen. Aber die eingetragenen Namen brachten uns nicht die erhoffte Erkenntnis, denn auf den Grabsteinen sind die Synagogen-Namen eingemeißelt. Ab 1850 findet man den bürgerlichen Namen auf Deutsch (meist auf der Rückseite des Grabsteines). Eine besonders wertvolle Quelle war die Arbeit „Chronik der jüdischen Gemeinde Kettwig/Kettwig vor der Brücke“, die Dr. Hans Gerd Engelhardt 1999 verfasst hat. In mühevoller Kleinarbeit hat er jahrelang die Lebensdaten, Wohnstätten und Lebensbedingungen der Laupendahler Juden zusammengetragen. Er hat die letzten Juden interviewt und ihren Bilderschatz erhalten. Alle Informationen zusammen genommen befähigten uns, Genealogien der jüdischen Familien zusammenzustellen. Es sind die Familien aus Kettwig vor der Brücke Anschel, Aron, Jacob oder Jacobs, Joseph, Leib, Levi, Lion, Moses, Seligmann und aus Kettwig Dr. Karl Schmitz. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstörten SA und SS die Häuser und Einrichtungen der jüdischen Bürger. Am gleichen Tag plünderten sie die Synagoge, zerschlugen das Inventar und versuchten, das Haus in Brand zu setzen. Am 20. Juli 1942 deportierte die NSDAP die jüdischen Frauen und Männer. Nur wenige überlebten das KZ, noch weniger überlebten im Exil. In Kettwig vor der Brücke liegen vor den ehemaligen Wohnungen Stolpersteine.
Wenn zu einer jüdischen Gemeinde zehn männliche Mitglieder gehören, die das 12. Lebensjahr erreicht haben, kann die Gemeinde einen Friedhof beantragen. 1786 begehrten die jüdischen Hausväter von der Herrschaft Hugenpoet ein Grundstück zum Bau eines Friedhofs. Von Maercken wies ihnen ein ödes Stück Land in der Blomerichsheide zu, das fast eine Stunde entfernt von der Ortsmitte oberhalb Schloss Landsberg lag, den Platz, auf dem sich heute der jüdische Friedhof befindet. Die erste Beerdigung fand 1786 statt und die letzte hundert Jahre später. Den Platz für die kleine Synagoge pachteten die Hausväter im Jahre 1801. Es war eine frühere Scheune, ein Nebengebäude des Hauses Landsberger Straße 24. Das Grundstück war nur 6 mal 8 Meter groß und war aufgeteilt in Betraum, Mikwe (eine Reinigungsstätte zur Beseitigung ritueller Unreinheit) und Schule. Der jüdische Glaube besagt, dass jeder Verstorbene wieder aufersteht. Darum hat jeder Tote das Recht auf vollkommene Totenruhe. Sein Grab darf niemals angetastet werden. Juden nennen ihren Friedhof „Haus des Lebens“ oder „Haus der Lebenden“ (vgl. Bajohr 2005).
Das Material der Grabsteine ist Ruhrsandstein, ein dauerhaftes Material, dem Feuchtigkeit nur wenig anhaben kann. Trotzdem haben zahlreiche Grabsteine Witterungsschäden. Einige Oberflächen sind abgeblättert, bei anderen Steinen hat sich die Oberfläche bereits gelöst und müsste mit besonderen Methoden wieder befestigt werden. Alle Grabsteine stehen aufrecht und frei. Die Bauarten der Grabsteine sind vielfältig: Abgerundete Formen wechseln mit klassizistischen Formen ab. Der Sandstein kommt in unterschiedlichen Farben vor. Auf anderen Friedhöfen sind Grabsteine mit Symbolen geschmückt, das können geknickte Blumen, abgebrochene Säulen, Davidsterne, einfache Sterne oder die segnenden Hände sein. Hier auf diesem Friedhof gibt es nur das Symbol der segnenden Hände. Es ist ein schöner alter Brauch, beim Besuch des Friedhofs ein Steinchen als Zeichen des Gedenkens auf dem Grabstein abzulegen. Die Grabinschriften sind vielfach von erlesener Sprache. Die Übersetzungen (Helmut Neunzig) gestalteten sich oftmals sehr schwierig. Neben den Hebräisch-Kenntnissen halfen Lexika und Abkürzungsverzeichnisse für Grabsteininschriften weiter. Gute Bibelkenntnisse sind dabei von Vorteil. Für die Grabsteinfotos, die wir dafür anfertigten, benutzten wir in den meisten Fällen besondere Beleuchtung und spezielle Objektive.
Drei Grabsteine wollen wir hier genauer beschreiben:
Das ist der Grabstein von Jitzchak bar Joseph. Jitzchak, also Seelig, war der Sohn von Joseph. Der bürgerliche Name ist Seligmann. Er ist am 10. September 1789 in Heimbach-Weiß (bei Koblenz) geboren, war Viehhändler, demnach „reich“, war verheiratet mit Marianne Herz aus Werden und hatte mit ihr acht Kinder. Die Familie wohnte Landsberger Straße 10. Seelig wurde am 3. September 1872 begraben.
Eine der schönsten Inschriften sieht man auf dem Grabstein 12. Der Text soll hier wörtlich wiedergegeben werden: „Dies ist das Grabmal der / tüchtigen Frau / Teiche, Tochter des Schlomo HaLevi. Lobenswert ihr verständiger Sinn, / da sie ihre Ehre hochhielt. Unter den Frauen möge die Makellose / vollkommen gepriesen sein. Ihr Herz und ihr Reden stimmten überein. / Ihre Mühe und ihre Tat waren eine Freude. Süß ihr Schlaf, da ihr Verdienst groß war. Ihre Seele sehnte und verzehrte sich, / um ihr Gebot zu erfüllen in doppeltem Maße. Deshalb wird sie sich erfreuen im Lande des Lebens. Sie war 25 Jahre und 9 Monate alt, als sie starb / am Tag 2, dem Vorabend des Neumonds / Siwan des Jahres 5613 nach der Schöpfung. Ihre Seele sei eingebunden im Bündel / des Lebens (der Lebendigen).“ Teiche, die Tochter von Schlomo HaLevi, starb am 6. Juni 1853 im Alter von 25 Jahren und 9 Monaten. So steht es auf ihrem Grabstein. Sie war verheiratet. Vielleicht starb sie im Kindbett. Mehr haben wir (trotz intensiver Suche in den Archiven) nicht in Erfahrung bringen können.
Das ist der Grabstein von Schmuel ben Benjamin, also von Samuel, dessen Vater Benjamin heißt. Samuel kam aus Mülhausen (das Ankunftsjahr ist nicht bekannt). Er erhielt seinen Schutzbrief 1762. Er heiratete Mirjam Jehoschua (Grabstein 43) und hatte mit ihr einen Sohn. Samuel wurde am 12. Dezember 1786 begraben. Es ist die erste Beerdigung auf diesem Friedhof.
Mehr Informationen zum Friedhof und eine Übersetzung aller überlieferten Inschriften finden Sie in dem Buch: Eggerath, Hanna / Neunzig, Helmut (2014) „Ihr Andenken sei ihnen zum Segen“ – Der jüdische Friedhof in Ratingen am Blomericher Weg und die jüdische Gemeinde Kettwig vor der Brücke. Essen. Die 48 Grabsteine aus den Jahren zwischen 1786 und 1888 samt der überlieferten Inschriften sind auch in der epigraphischen Datenbank epidat des Essener Steinheim-Instituts dokumentiert (http://www.steinheim-institut.de/).
Text: Hanna Eggerath; Übersetzungen der Inschriften: Helmut Neunzig
-Schloss Ehreshoven, Archivdepot der vereinigten Adelsarchive im Rheinland e. V.: Archiv Hugenpoet-Fürstenberg, Akte 98.
-Stadtarchiv Essen: Sterbeurkunden Mintard; Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden Kettwig vor der Brücke; Repertorium 129, Nr. 923, Heberolle 1910; Repertorium 129, Nr. 927.
-Landesarchiv Nordrhein-Westfalen: Abt. Rheinland, Duisburg, Reg. Düsseldorf, BR 0083, 8346 und Großherzogtum Berg 13055, Nr. 29, Rentei Ratingen-Angermund.
-Bajohr, Stefan (2005) Archiv aus Stein – jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen (1. Auflage). Oberhausen.
-Brocke, Michael (1999) Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Zerstörte Synagogen 1938 (Beilage: Die Synagogen der jüdischen Gemeinden Nordrhein-Westfalen). (Gedenkbuch der Synagogen Deutschland 1.) S. 288, Bochum.
-Brocke, Michael; Müller, Christiane E. (2001) Haus des Lebens: jüdische Friedhöfe in Deutschland (1. Auflage). Leipzig.
-Eggerath, Hanna / Neunzig, Helmut (2014) „Ihr Andenken sei ihnen zum Segen“ – Der jüdische Friedhof in Ratingen am Blomericher Weg und die jüdische Gemeinde Kettwig vor der Brücke. Essen.
-Engelhardt, Hans Gerd (1999) Chronik der jüdischen Gemeinde Kettwig / Kettwig vor der Brücke. Kettwig.
-Fleermann, Bastian (2009) Die jüdische Familie Simson aus Mettmann. In: Journal, Jahrbuch des Kreises Mettmann 29/2010, o. O.
-Fleermann, Bastian (2007) Marginalisierung und Emanzipation, Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779-1847. Neustadt an der Aisch.
-Grübel, Monika / Mölich, Georg (2005) Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln / Weimar / Wien.
-Horn, Ekaterina / Münster-Schöer, Erika / Schulz-Hönerlage, Joachim (Bearb.) / Stadt Ratingen, Stadtarchiv (Hrsg.) (2008) Menschen – Orte – Erinnerungen, Jüdisches Leben in Ratingen. Ratingen.
-Pracht-Jörns, Elfi (2000) Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf. (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 34.2.) S. 121-122, Köln.
-Rauchenbichler, Ulrich (1989) Der Jüdische Friedhof in der Herrschaft Hugenpoet. In: Journal, Jahrbuch des Kreises Mettmann 9/1990, o. O.
-Reuter, Ursula (2007) Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, VIII.8.) S. 55, Bonn.